08.01.2003
Surreale Liebesballade im Horrorgewand - ERSCHECKEND!
Was ist wenn man Jacob's Ladder, David Lynch und Hellraiser in einen Topf wirft und kräftig rührt? Das Ergebnis ist überraschenderweise ein Videospiel namens "Silent Hill 2". Bereits sein Independent-Vorgänger faszinierte den anspruchsvollen Horrorfan mit einigen der grauenerregensten und bizarrsten Visionen, die sich je in den Gehirngängen der Zocker breit gemacht haben. Nie zuvor gab es in Videospielen eine derartig anstrengende, doppelbödige Geschichte zu bestaunen, die ähnlich wie in David Lynch-Filmen zu keinem wirklich zusammenhängenden Ganzen führt, sondern die Spieler am Ende noch mehr verwirrt wie zu Beginn des Abenteuers.
Das mysteriöse kleine Städtchen Silent Hill umgibt ein geheimnisvolles Rätsel, denn wie Veteranen der Serie wissen, ist es nach wie vor nicht klar, ob Silent Hill wirklich real, oder nur in den unergründlichen Gehirnwindungen einiger Psychopaten existiert.
Spielerisch orientiert sich das Spiel stark an den ausgezeichneten Vorgänger. Das Kampfsystem wurde leicht verbessert und der Schwierigkeitsgrad des Action -sowie des Rätselbereichs lässt sich vor dem Spielstart individuell auf den persönlichen Geschmack des Users einstellen. Ein vorbildliches Feature, das unbedingt Schule machen sollte. Es gibt einige sehr lange Fußmärsche zu erledigen, die aber dank der ständig gegenwärtigen Hochspannung gerne bewältigt werden. Die Rätsel sind genau wie schon im Vorgänger sehr durchdacht, erneut poetisch angehaucht und passen zum Rest des Spiels und vorallem zur Story wie die Faust auf's Auge. Die Gesamtspielzeit ist recht kurz angelegt, was der Story aber noch zusätzlich Kraft verleiht und somit als klarer Pluspunkt anzusehen ist. Zudem gibt es mindestens 4 verschiedene Endings (plus einen augenzwinkernden Entwicklerjoke), die man, je nachdem wie man sich im Spiel verhält, am Schluss zu Gesicht bekommt.
Auch im zweiten Teil sind Atmosphäre und Story die Höhepunkte des Spiels. Die bizarren und surrealen Bilder brennen sich direkt in die Netzhaut und lassen einfach nicht mehr los. Diese Bilder werden mit einer der modernsten Grafikengines der Videospielgeschichte zum Leben erweckt. Zudem ist das Design der Grafik äußerst künstlerisch gestaltet und erinnert an Werke von Maler Francis Bacon. Zusammen mit der einzigartigen Musik, einer Mischung aus Twin Peaks-Klängen, völlig depressiven und melancholischen Ambientstücken und absolut erschreckend düsteren Industrial-Sounds und der abartig drückenden, realitätsnahen und doch fremnden Soundkulisse, ergibt sich eine wahrhaft niederschmetternde und paranoide Gesamtstimmung, von der man sich ab und an sogar mal erholen möchte. Überhaupt muss ich anmerken, dass gerade die Soundkulisse allesüberragend ausgefallen ist. Der Soundtrack ist meiner Meinung nach wohl der Beste im gesamten Videospielbereich und die Soundeffekte stehen dem in nichts nach. Der wahre Star des Spiels ist aber dennoch ein anderer, nämlich die Story. Nie war ein Videospiel bedrückender, realistischer, trauriger, angsteinflößender und mehr für Erwachsene geeigent. Es geht um Egoismus, Schuld, Mord, Suizid, Vergewaltigung, Diskriminierung, seelische Grausamkeit, sexuelle Unzufriedenheit, wahre Liebe und Tod. Kinder sollte man so weit wie möglich von diesem Produkt fernhalten. Die Geschichte ist sehr ausgefeilt, und dennoch genug wirr und mysteriös um auch Lynch-Anhänger und selbstverständlich Fans des ersten Teils zu begeistern. Während Lynch sich in seinen Filmen mehr der Bildergewalt hingibt, geht Silent Hill eine Spur weiter und beschäftigt sich teilweise wirklich mit der menschlichen Psyche und hinterlässt somit einen beklemmend realen Eindruck.
Silent Hill 2 ist ein Horror-Game, das klarmacht, woher Horror kommt. Nämlich, daß die tiefsten und persönlichsten menschlichen Gefühle ständig von einer unmenschlichen und immer feindlicheren äußeren Realität bedrängt werden.
Intellektueller Horrortrip in die Psyche der Menschen. Was ist wenn sich Träume in die Realität drängen? Das Spiel macht die nächtliche Wahrnehmung und den Schlaf der Vernunft zu einem ästhetischen Prinzip. Es ordnet sein Material nach den Zufällen von freier Assoziation, surrealer Wirklichkeit und Ängsten aller Art. Für Psychofreaks ein gefundenes Fressen. Die dunklen Gefilde der Seele kehren sich hier nach außen. Das Unterbewußte übernimmt Schnitt, Licht, Ton und Regie.
Zum ersten Mal im Reich der digitalen Unterhaltung gelingt es Entwicklern einen Höllentrip durch die eigene Psyche zu erschaffen, eine verstörte Psyche, dunkle Vergangenheiten (Vergewaltigung, Mord, Schuld etc.) die posttraumatische Erlebnisse auslösen, bestimmen das Geschehen. Sicherlich keine leichte Unterhaltung, vielmehr ein faszinierener Trip durch die Abgründe einer modernen Gesellschaft.
Mit bizarren Bildern und sehr schrägen Einstellungen bereitet das Spiel wahrhaft Kopfschmerzen und Beklemmungen. Mit wenigen aber erschreckend realitätsnahen Dialogen und nur unterlegt mit kreischenden Geräuschen und alptraumhafter Musik ist Silent Hill 2 ein absolutes Kultspiel, das auch zum Nachdenken anregt und allgemein sehr deprimiert. Konami Tokyo gelang mit dem Nachfolger zum schockierensten Spiel der Videospielgeschichte ein aussergewöhnliches und eindringliches Stück Medium und möglicherweise das erste echte Spiel für Erwachsene. Ein Independent-Werk irgendwo zwischen Survivalhorror, Liebesballade, Psychothriller und Kunstdrama, diskussionswürdig, absolut düster, und eigentlich auch abgrundtief böse.
Erwähnen sollte man noch eine herrlich schräge Hommage an das umstritten geniale "Blue Velvet" im Woodside Apartment. Wer sich das nicht entgehen lassen will, aber auch alle anderen erwachsenen Fans von intelligenter, anspruchsvoller und künstlerisch wertvoller Unterhaltung mit Botschaft, sollten sich schnellstmöglich dieses Ausnahmeprodukt holen.